Julia Kneise – „ Schwarz auf Weiß“ – zu den Bildern meines Vaters

(letzte Ausstellung des Fotografen in der eigenen Galerie, Eisenach, 2010)

Zeit ist eine der wesentlichsten Fragen, mit der wir uns durch die Bilder meines Vaters, des Fotografen Ulrich Kneise, konfrontiert sehen. Es geht um Erinnerung an verstrichenes Leben. Es geht um fremdes und eigenes, oft gespiegelt an der Einfachheit der Dinge. Ich sehe zwei Jungs vor der tristen Kulisse der Leuna-Werke.

Einer steht fröstelnd, einer sitzt selbstbewußt in einer selbstgebauten Seifenkiste.

Sein Blick richtet sich gleichsam auf eine mobile Zukunft, vielleicht als „Dauerläufer“ auf der Überholspur, will man dem Aufkleber auf seinem Gefährt Beachtung schenken, merkwürdig die Szenerie und poetisch zugleich. Ein Moment, wie er uns immer wieder in Ulrich Kneises Bildern begegnet: melancholisch bisweilen, auch ironisch, manchmal irritierend, immer aber voller Einfachheit und mit einem Sinn für Poesie erfasst. Oft finden wir unsere Lust an stillen und bisweilen romantischen Momenten befriedigt und wir gestatten uns ein Seherlebnis das sich einprägt, ganz unabhängig, worauf er als Fotograf seine Kamera richtete. Von Kindheit an darauf trainiert, das Schöne nicht nur zu suchen, sondern es auch in seiner ursprünglichen Form zu erkennen, gestattet mein Vater sich Bilder, die aus der Zeit gefallen scheinen. Ein Interesse an Versachlichung läßt er dabei nicht erkennen. Ulrichs Faszination für Landschaften und Dinge mit Charakter, kenne ich schon von je her. Seine Liebe zu Altertümlichen, das seine Spuren sichtbar trägt, hat mich dazu gebracht, ebenfalls einen künstlerischen Beruf zu ergreifen. Ihn hat das befähigt, zahlreiche Bücher im historischen Kontext zu schaffen, die anders sind. Immer läßt er den Betrachter an seiner Leidenschaft teilhaben, mit der er dem Wesen der Dinge nachspürt, immer mit dem größten Aufwand, der ihm möglich ist. Und wenn ich ihn nicht damit ins Abseits der aktuellen Rezeption von Fotografie  stellen würde: die alte wunderschöne Berufsbezeichnung „Lichtbildner“ wäre für meinen Vater angemessen. 

Die Ausstellung „Schwarz auf Weiß“ steht mit ihrem Namen nicht nur für die technische Seite der Bilder, vielmehr ist der Titel eher ein Bekenntnis und kann ebenso auf die farbigen Arbeiten angewendet werden. Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen. Es geht um Zeugenschaft, die Gestalt der Dinge, um Körpersprache, Ausdruck und Räumlichkeit. Der Fotograf geht, sieht und entscheidet. Er bewegt sich in mitten des Geschehens und wird dabei selbst immer unsichtbarer Teil seiner Bilder sein. Er tritt in intimen Dialog mit seinem Objekt, seinen Mitmenschen, seiner Umwelt. Seine Kamera filtert heraus, was es zu bezeugen gilt, um es zu fixieren. Fotografie als Spiel wider die Vergänglichkeit, die herausgezögert, aber nicht bezwungen werden kann. Dabei geht es meinem Vater wie der Katze die, gefangen im Quadrat, vor der Weite des Meeres auf einer stürzenden Mauer umher streunt, skeptisch suchend, wie ich  auch meinen Vater oft beobachten konnte. „Das nicht Gesuchte ist das zu Findende!“  Dabei ist er auch immer auf der Suche nach sich selbst und einer Bestätigung, das sein Tun am Ende doch einen Sinn hat. Ja, der Zweifel ist sein ständiger Begleiter. Blickt er zurück auf die Zeit als Kurator in seiner eigenen Galerie, fällt das Resume nüchtern aus: „ Ein Fotograf sollte fotografieren, niemals aber eine Galerie betreiben“. Die intime Kenntnis der Sicht- und Arbeitsweise geschätzter Kollegen verschließt Türen, verstellt den Blick, hemmt die vorurteilsfreie Sicht auf die Dinge, macht aber auch klüger und anspruchsvoller.  

Bestimmte Haltungen werden, wenn sie Bestand haben, von Generation zu Generation weitergegeben. Das ist konservativ im Sinne von „bewahren“ und schafft Vertrauen in die eigene Weltsicht. So ist es bei mir und meinem Vater ebenso, wie dessen Prägung durch meinen Großvater Gerhard Kneise, der Maler und Grafiker war. Er gab aber seine Passion auf, nachdem er in der Nachkriegszeit zwischen die Mahlsteine der Stalindiktatur geriet. Sich aufgegeben hat er dennoch nicht: „ Meine Ansprüche sind einfach, aber nicht einfach belanglos.“ war seine Lebensmaxime. Diese Haltung scheint auch mein Vater verinnerlicht zu haben. Sie erlaubt ihm, sich für das zu interessieren, was er in der Nähe finden kann. Er liebt seine Heimat, was kritische Distanz nicht ausschließt. Mit seinen Fotografien möchte er doch immer etwas verändern, verbessern und weitergeben. Zwar sieht er diesen naiven Ansatz heute skeptisch, bleibt ihm aber dennoch, wie mir scheinen will, treu. Er will die Hoffnung einfach nicht fahren lassen. Besonders die Fotografien aus den letzen Jahren des Staatssozialismus zeigen, das mein Vater als Fotograf selbst emotional betroffen war. Er quittiert das mit Fotos, die er aufnimmt, um sich zu vergewissern, das Wahrheiten nur das Leben schreibt und bleibt damit auf Distanz zu gesellschaftlicher Normierung. Und er stellte bereits in der DDR diese Bilder in Ausstellungen zur Diskussion. Es war mehr möglich, als man heute mitunter glauben mag. Nur eine Galerie im eigenen Haus zu begründen, das gelang ihm erst mit dem Umbruch der Verhältnisse 1989. 

„Ein Bild muss sein wie ein gutes Gedicht“. Ein Credo, denn viele Kneisebilder haben ein Geheimnis. Das macht sie einzigartig und interessant. Welchen Sinn der Betrachter hineinlegt, bleibt ihm überlassen. Ulrichs Bilder sind selten ein bloßes Abbild, indem sie nur das Sichtbare wiedergeben, eher machen sie darüber hinaus etwas sichtbar.  Ein letztes, wie ich finde, wichtiges Anliegen meines Vaters ist es, dem Betrachter zu erstaunen und und damit auf die Wichtigkeit der kleinen Dinge zu verweisen. Er zeigt die ganze Schönheit, die so gefährdet ist. Manchmal entstanden dabei Bilder, die im lokalen Gedächtnis der Menschen eine Rolle spielen, egal ob in Eisenach, am Band bei Opel oder in Spergau, wo jedes Jahr auf archaische Weise Lichtmess gefeiert wird… Unsere Aufmerksamkeit wird auf uns selber gelenkt, wir schauen, hören zu und wirken mit. Mich stimmen die Fotografien meines Vaters, wenn sie nicht einfach zum Genuss verführen, mitunter melancholisch bis skeptisch, doch niemals hoffnungslos. 

(redaktionell überarbeitete Fassung, 2022)